Studien zur Ostmitteleuropaforschung
Herausgegeben vom Verlag Herder-Institut, Marburg
Die Reihe umfasst überwiegend akademische Qualifikationsschriften und andere Monografien zur historisch-kulturwissenschaftlichen Ostmitteleuropaforschung. Alle Bände unterliegen einem double-blind-peer-review-Verfahren. Zwei Jahre nach Erscheinen der Printfassung werden sie im Open Access zugänglich gemacht.
Eine Übersicht aller bisher verfügbaren Ausgaben des Verlages finden Sie hier.
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37
Der polnisch-deutsche Briefwechsel der Bischöfe von 1965 gilt als einer der wichtigsten Impulse und entscheidender Anstoß für den Dialog zwischen Deutschen und Polen. Die Versöhnungsbotschaft des polnischen Episkopats mit ihrer berühmten Formel „wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung” wird seither synonym mit Bewältigung nationaler Feindschaften gesetzt. Die Vorbildfunktion dieses Briefwechsels verstellt jedoch häufi g den Blick auf die mühsame Entwicklung seiner fortschritt lichen und positiven Ausstrahlung, die durch zahlreiche Hemmnisse und Widerstände erschwert wurde und nach wie vor wird. Sie schlagen sich vor allem in der asym metrischen Einschätzung beider Briefe nieder: auf der einen Seite die bahnbrechende Versöhnungsgeste des polnischen Episkopates, auf der anderen Seite eine vermeintlich zurückhaltende und enttäuschende Antwort der deutschen Bischöfe, die einer Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze auswichen. Die Untersuchung widerspricht diesem Narrativ. Die Ausweitung des Briefwechsels um weitere verbal wie schriftlich gefasste Äußerungen deutscher und polnischer Hierarchen im Rahmen ihres konzilaren Dialogs sowie dessen Einbettung in die zeitgenössischen politischen, gesellschaftlichen, kirchlichen und ethisch-religiösen Kontexte eruieren den Befund, dass politische Interpretationen das zentrale Anliegen des Briefwechsels verfehlen und sich als ungeeignet erweisen, um seine Intention zu verstehen und zu bewerten.
36
Die Studie betrifft die Analyse der Erinnerungskulturen in den zwei polnischen, jedoch über unterschiedliche Traditionen verfügenden Kleinstädten Labes und Flatow nach 1945. Methodisch knüpft die Autorin an das Konzept des kollektiven Gedächtnisses an und überträgt dieses auf kleine Untersuchungsräume, um auf die räumliche Differenzierung der lokalen Erinnerungslandschaften hinzuweisen. Aufgrund der spezifischen Vergangenheit dieser Städte geht es überwiegend um die Erinnerung an ihre deutsche und jüdische Kulturlandschaft. Haben Labes und Flatow in den Jahren 1945-1989 die nichtpolnischen Spuren ihrer Vergangenheit verdrängt, umgedeutet oder vergessen, so wurden diese nach dem Umbruch 1989/1990 – und zum Teil sogar schon früher – gesucht, entdeckt und ins kollektive Gedächtnis adaptiert. Die Hauptfragen lauteten: Wie, wann und warum hat man die fremde Kulturlandschaft verdrängt und ab wann sowie warum hat man die ungewollten Elemente gesucht und sucht sie noch bis heute? Es geht also um die Erforschung der Wendepunkte in den lokalen Debatten, vorwiegend in Bezug auf die deutsche, jüdische und polnische Vergangenheit der Kleinstädte. Die Studie zeigt, dass die lokalen Erinnerungskulturen nur scheinbar homogen sind und die Geschichtsdiskurse großenteils von den Traditionen innerhalb der jeweiligen Bevölkerung abhängen.
35
Warschau im Ersten Weltkrieg
(2015)
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs markierte für Warschau den Auftakt zu einer Reihe von Veränderungen. Ausschlaggebend hierfür waren sowohl die Ablösung der russischen Teilungsherrschaft durch die deutsche Besatzung im Sommer 1915 als auch die gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts angebahnt hatten und mit dem Ausbruch der Russischen Revolution endgültig an die Oberfläche kamen. Die jahrzehntelange russische Präsenz im Königreich Polen hatte ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Warschau und dem Zarenreich erzeugt. Dies zeigte sich u.a. in der Aberkennung autonomer Stadtrechte, in den Wirtschafts- und Handelsbeziehungen sowie in der Russifizierung des Bildungswesens und des Stadtbildes. Die Einnahme der Stadt durch die deutschen Besatzer unterbrach diesen Prozess und führte zu administrativen, bildungspolitischen und auch kulturpolitischen Veränderungen. Diese Neuerungen waren zum einen das Resultat deutscher militärischer Interessen und zum anderen integraler Bestandteil der Doppelstrategie der deutschen Besatzungspolitik: Diese wusste die einheimische Bevölkerung mit kulturellen und politischen Zugeständnissen zu beschwichtigen, verfolgte gleichzeitig aber auch aus wirtschaftlichen Interessen eine ausbeuterische Linie. Interessant dabei ist, dass dieses Vorgehen der Deutschen auch nachhaltige Entwicklungen im Besatzungsgebiet bewirkte. Als Ergebnis der ambivalenten, gezielt auf die Metropole abgestimmten Politik wandelte sich nicht nur die physische Stadtlandschaft, sondern auch die Verwaltungsstruktur, das Bildungswesen und die gesellschaftliche Position einzelner Bevölkerungsgruppen. Die Weichselmetropole erlebte den Einbruch einer neuen Kultur, in der die Besatzer mit einer den Warschauern bis dahin unbekannten Genauigkeit den städtischen Raum und seine Gesellschaft kategorisierten, ordneten und verwalteten. Sie führten eine Normierung ein, die unter russischer Herrschaft nicht praktiziert worden war und der Stadt zahlreiche neue Potenziale bot.
34
Die Studie beschäftigt sich mit den Entwicklungen im Erinnerungsdiskurs an die Judenvernichtung im kommunistischen Polen und der Rolle der Massenmedien (Fernsehen und Presse) als Orte der Aushandlung und der Kommunikation dieses Diskurses. Die Analyse fragt nach dem Zusammenhang zwischen einer staatlich gelenkten Gedenk- und Erinnerungskultur und deren Vermittlung durch die Medien, wobei in der Studie die Untersuchung von Kontinuitäten und Brüchen im „Meisternarrativ“ von besonderer Bedeutung ist. Insbesondere massentaugliche Formate wie Spielfilme und Fernsehserien werden in der Studie auf ihre narrativen Konstruktionen sowie ihren Bilderhaushalt analysiert, die affirmativ oder anlehnend wirken konnten, und dabei entsprechende Reaktionen in der polnischen Gesellschaft hervorrufen konnten. So zeigt die Studie, dass das Massenmedium Fernsehen durch seine Stellung als Leitmedium sowohl als Hemmnis als auch als Impulsgeber für gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit der Erinnerung an die Judenvernichtung dienen konnte. Die Studie konzentriert sich auf die Jahre 1968 bis 1989 und zeichnet Konjunkturen des Erinnerns und der Marginalisierung der Erinnerung nach, die von verschiedenen politischen, gesellschaftlichen sowie transnationalen Faktoren beeinflusst wurden, und ihren Niederschlag in den Medien fanden. Besonders im Mittelpunkt stehen hierbei die 1970er Jahre und die damit verbundene (erinnerungs)politische Neuausrichtung, die mit einer Marginalisierung einherging, sowie – beeinflusst durch transnationale Faktoren wie die Ausstrahlung der Serie „Holocaust“ und des Dokumentarfilms „Shoah“ – die Neu- bzw. Wiederentdeckung des Themas im letzten Jahrzehnt der kommunistischen Herrschaft über Polen.
33
Ad rem publicam et ad ignem
(2015)
Riga, die heutige Hauptstadt Lettlands, ist seit dem Mittelalter die bedeutendste politische und wirtschaftliche Metropole des Baltikums. Trotz der Bedeutung der Stadt sowie der Kontinuität der Ratsverfassung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hat sich vor allem aus der älteren Vergangenheit der Stadt wenig archivisches Schriftgut erhalten. Für das Mittelalter, d.h. den Zeitraum von der Gründung der Stadt bis 1561, ist insgesamt von etwa 2000 Stücken – vor allem Briefen, Urkunden und Amtsbüchern – auszugehen. Die einstigen provenienzmäßigen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Teilen der schriftlichen Überlieferung sind u.a. durch die Auflösung des Rigaer Stadtarchivs 1964 und dessen Eingliederung in das Staatliche Historische Archiv Lettlands zum Teil kaum noch zu erkennen. Gleichzeitig existiert eine kaum überschaubare Masse an handschriftlichen Abschriften, Editionen und Mikrofilmkopien mittelalterlicher Rigaer Ratsdokumente. Ausgehend vom disparaten und fragmentarischen Zustand der Rigaer mittelalterlichen Bestände auf der einen und deren intensiver Bearbeitung und Rezeption auf der anderen Seite werden das Entstehen und die Überlieferung dieses Schriftgutkomplexes vom Mittelalter bis in die jüngere Vergangenheit analysiert. Dabei wird gezeigt, dass dessen Gestalt, Bedeutung, Funktion und Rezeption unlösbar mit den sich ändernden gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontexten verbunden waren. Schriftgutüberlieferung ist somit als umfassend transformativer Prozess zu verstehen.
24/II
Dieses zweibändige Handbuch erzählt die Geschichte der Deutschen in Ungarn vom Mittelalter bis heute und fasst den dazu vorliegenden Forschungsstand zusammen. Berücksichtigt wird Ungarn in seinen jeweiligen historischen Grenzen. Zeitlich wird die von West nach Ost verlaufene Siedlungsmigration von ihren Anfängen unter König Stephan I. bis zu ihrem Höhepunkt im 18. Jahrhundert behandelt und die Geschichte der in Ungarn ansässig gewordenen einzelnen deutschen Siedlergruppen bis zur Aufl ösung des historischen Ungarns 1918 näher untersucht. Von 1918 bis zur Gegenwart, das heißt bis zu den Parlamentsund Kommunalwahlen 2006, steht die Geschichte der Ungarndeutschen im Mittelpunkt. Die Darstellung sucht ein Narrativ der Gruppengeschichte der Deutschen in Ungarn zu entwickeln, das sowohl die interethnischen Beziehungen zu den Magyaren als auch die Verfl echtung mit anderen Minderheiten berücksichtigt und somit eine multiethnische Perspektive einnimmt. Am Beispiel der Deutschen wird die Geschichte des Zusammenlebens sprachlich, ethnisch oder religiös unterschiedlicher Gruppen im historischen Kontext, in Zeit und Raum verdeutlicht. Gruppen wie die Deutschen in Ungarn benötigen ihre eigene Geschichtsschreibung, ihr eigenes historisches Narrativ. Ein solches Narrativ formuliert ein Identitätsangebot durch die refl ektierte und selbstkritische Aufarbeitung ihrer Vergangenheit. Eine quellengestützte Darstellung auch umstrittener Geschichtsperioden wie beispielsweise der NS-Zeit oder der Vertreibung soll vor diesem Hintergrund zur Überwindung von Traumata und Tabuisierungen beitragen. Es geht hier um eine transnationale, auf die Prozesse der gesamteuropäischen Geschichte hin geöffnete Geschichtsschreibung, die einerseits eine Einordnung der Gruppengeschichte in größere historische Zusammenhänge gewährleistet, andererseits die Besonderheiten der Gruppe im ständigen Vergleich mit anderen gebührend herausstellt und so ein plastisches und differenziertes Bild ihrer Geschichte zeichnet.
32
Der 1897 im Russischen Reich durchgeführte Zensus bezifferte den litauischen Anteil der Bevölkerung von Vilnius auf lediglich 2,1 Prozent. Gleichzeitig verfügte die litauische Nationalbewegung über keinerlei Verbündete in ihrem Kampf, der zunächst auf die Herstellung territorialer Autonomie, später dann auf die Errichtung eines unabhängigen Staates „in seinen ethnografischen Grenzen“ mit Vilnius als Hauptstadt abzielte. Trotz dieser ungünstigen Umstände sahen ihre zentralen Akteure Vilnius als zukünftige litauische Hauptstadt an. Das vorliegende Buch untersucht das Zustandekommen dieses Ansinnens, das im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aufkam, und fragt nach seiner Entwicklung und Implementierung. Da für die Nationalbewegung eine Hauptstadt schwer vorstellbar war, in der die Titularnation lediglich wenige Prozent ihrer Bevölkerung ausmachte, liegt ein weiterer Fokus der Studie auf der für nötig erachteten Litauisierung von Vilnius. Ein großer Teil des Buches befasst sich mit der Zwischenkriegszeit, in der Vilnius zu Polen gehörte und in der die litauische politische und kulturelle Elite Anstrengungen unternahm, die Idee von Vilnius als ewiger Hauptstadt Litauens in die breite Bevölkerung zu tragen. In dieser Periode, so ein Ergebnis der Studie, wurde Vilnius nicht nur zu einer politischen Idee, sondern entwickelte sich gleichzeitig zu einem Werkzeug politischer Manipulation. Auch die Ansprüche anderer Nationalitäten, die beispielsweise von Juden, Polen und (Weiß-)Russen vorgebracht wurden und denen sich die litauische Nationalbewegung gegenübersah, werden skizziert.